Der Löwenmensch  
 

Der Löwenmensch wurde 1939 bei den Ausgrabungen von Otto Völzing (1910-2001) und Robert Wetzel (1898-1962) in der Stadel-Höhle am Felsmassiv Hohlenstein im Lonetal bei Ulm entdeckt, in seiner Bedeutung aber erst 20 Jahre später erkannt. Am letzten Grabungstag, dem 25. August - der Beginn des Zweiten Weltkrieges stand unmittelbar bevor - barg Völzing im rückwärtigen Teil der Höhle annähernd 200 Elfenbeinsplitter. 1969 stieß Joachim Hahn (1942-1997) bei Inventarisierungsarbeiten auf die verpackten Fragmente. Er fügte die Einzelteile zu einer fast 30 cm großen, vollplastischen Figur zusammen: Eine aufrecht stehende Gestalt mit Tierkopf. Über 14C-Datierungen an Tierknochen aus der Umgebung der Fundstelle konnte das Alter der Figur auf ca. 32000 Jahre vor heute bestimmt werden.

Nach Auffindung und Anpassung weiterer Fragmente wurde die Statuette 1988 umfassend restauriert und durch Elisabeth Schmid (1912-1994) wissenschaftlich bearbeitet. Der Kopf war als der eine Raubkatze zu identifizieren, die aufmerksam in die Ferne blickt. Beide "Arme", von denen sich der schlechter erhaltene rechte nicht mehr direkt an den Corpus ansetzen ließ, liegen eng am Körper an. Im Gegensatz zu Hahn interpretierte Schmid das Geschlecht der Figur als weiblich. Eine sichere Deutung muß aber an der fragmentarischen Erhaltung der Statuette scheitern, deren originale Oberfläche an der Vorderseite des Corpus abgeplatzt und nichtmehr erhalten ist. Für Interpretationsversuche zur Klärung der Frage nach dem Geschlecht können nur Indizien herangezogen werden. Für die Deutung als Frau sprachen nach Schmid vor allem die dreieckige Form einer Elfenbeinlamelle über dem Schritt sowie Spuren eines waagrechten Schnittes im Bereich des Unterleibes, der als Darstellung einer Bauchfalte gedeutet wird, wie sie bei weiblichen Aktdarstellungen zu beobachten ist.

 
 

Foto: Nadine Wacker, Ulm
Copyright Ulmer Museum
 
 

Eine kritische Analyse der Gestalt läßt weitere Deutungsmöglichkeiten zu. Der schlanke und für einen Menschen zu langgestreckte Mittelteil der Figur, die prankenartigen "Arme", der fließende Übergang der Beine in den Rücken ohne Darstellung eines Gesäßes sind Merkmale einer Tierfigur. Als menschlich können die Proportionen der Beine und Füße, die Darstellung von Knöcheln und natürlich die aufrechte Haltung verstanden werden. Bemerkenswert ist die Schrägstellung der Fußsohlen, die vielleicht eine Bewegung symbolisieren sollte. man kann daher zu dem Schluß gelangen, dass in der figur weit mehr tierische als menschliche Merkmale verborgen sind, wobei eine Charakterisierung als weiblich oder männlich möglicherweise überhaupt nicht beabsichtigt war. Betrachtet man lediglich die Beine und Füße sowie die Haltung als menschlich, nähert sich die Komposition des Löwenmenschen den aus der Wandkunst einer um viele Jahrtausende jüngeren Periode der Jüngeren Altsteinzeit (Magdalénien) aus Südfrankreich bekannten Mischwesen wie den "Zauberern" aus den Höhlen des "Les Trois Frères" oder "Le Gabillou". Bei diesen fantastischen, bewegt dargestellten Figuren sind lediglich die Beine und Füße menschlich, während der Restkörper ein Tier oder eine Mischung verschiedener Tiere darstellt.

In der Figur des Löwenmenschen besitzen wir ein Relikt aus einer kaum deutbaren Vorstellungswelt des frühen Homo Sapiens, deren Überbleibsel uns nur in winzigsten Ausschnitten - in Form rund eines Dutzend kleiner Tierfigürchen aus vier Höhlen der Schwäbischen Alb (Vogelherd, Hohlenstein, Geißenklösterle, Hohenfels) - erhalten sind. Viele dieser Figuren tragen Zeichen unbekannter Bedeutung, eingekerbte Punkte, Strichbündel oder -kreuze, so auch der Löwenmensch: Auf dem linken Arm finden sich sieben parallele, horizontal eingeschnittene Rillen. Die Statuette, deren Faszination heute nicht zuletzt im Interpretationsspielraum ihrer Gestalt leigt, ist die mit Abstand grösste und spektakulärste Figur dieses Ensembles ältester beweglicher Kunst aus dem Zeitraum vor 30000 bis 40000 Jahren.

Kurt Wehrberger
Ulmer Museum - Archäologische Sammlung

Literatur: 5 millions d'annèes. L'aventure humaine. Ausst.-Kat. Brüssel 1990; J. Hahn, Die Stellung der männlichen Statuette aus dem Hohlenstein-Stadel in der jungpaläolithischen Kunst. Germania 48, 1970, S. 1-12; ders., Kraft und Aggression. Die Botschaft des Eiszeitkunst im Aurignacien Süddeutschlands? Archaeologica Venatoria Bd. 7, Tübingen 1986; E. Schmid, Die altsteinzeitliche Elfenbeinstatuette aus der Höhle Stadel im Hohlenstein bei Asselfingen, Alb-Donau-Kreis. Fundberichte aus Baden-Württemberg 14, 1989, S. 33-96; Der Löwenmensch. Tier und Mensch in der Kunst der Eiszeit. Ausst.-Kat. Ulm 1994, Sigmaringen 1994.

Text aus:
ZeitWenden. Rückblick. Katalog zur Ausstellung in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, 4. Dezember 1999 bis 30. April 2000, Köln, DuMont 1999